Digitale Helferein bringen Industrie 4.0 in die Praxis

(Saarbrücken/Ludwigsburg) Wer „Saarland“ hört, denkt automatisch an eine lange industrielle Tradition, an Bergbau, Schwerindustrie und Schlackehalden. Aber das Saarland ist heute anders: optisch grün und wirtschaftlich vielfältig. Man hat die Zukunft im Blick. Ein gutes Beispiel dafür ist das Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMa), eine gGmbH zur angewandten Industrieforschung mit Sitz in Saarbrücken. Hier wird an intelligenten, umsetzbaren Lösungen für die „Fabrik der Zukunft“ gearbeitet. Bei unseren wiederholten Besuchen und Gesprächen am ZeMa haben uns die gezeigten Umsetzungsbeispiele ebenso beeindruckt wie der Denkansatz des wissenschaftlichen Geschäftsführers, Prof. Dr. Rainer Müller. Dieser hat die bei deutschen Akademikern eher seltene Gabe, sich verständlich auszudrücken – und seine Zuhörer mitzureißen. Eindrücke und Einblicke.

Wie revolutionär ist die digitale Revolution?

Die Währung der digitalen Transformation scheint nur ganz große Scheine zu kennen. Kaum ein Superlativ, der nicht bemüht, kaum eine Bedrohung, die nicht heraufbeschworen wird. Als jemand, der sich seit Jahrzehnten mit dem Einsatz von Computertechnik in der Produktion befasst, möchte man den lautstarken Experten für Digitalisierung bisweilen zurufen: „Leute, habt ihr es nicht kleiner?“

Spätestens seit den 1980er Jahren wird Arbeit schrittweise digitalisiert. Beginnend mit kleinen Berechnungsprogrammen, Tabellenkalkulationen und Textverarbeitungen hielt die Digitalisierung Einzug in die Büros. Diese kleinen Lösungen, die unmittelbar Nutzen erzeugten, entwickelten sich anwendungsorientiert weiter, wurden ergänzt, vergrößert und miteinander vernetzt. So entstand schrittweise der digitale Raum, in dem wir uns heute bewegen. Zugegeben, dieser Prozess dauerte keine Jahrhunderte, aber doch einige Jahrzehnte. Insofern wäre es eher angebracht, von einer digitalen Evolution zu sprechen. Weniger dramatisch, aber eher zutreffend.

Bezogen auf die Digitalisierung industrieller Prozesse ergibt sich in der Rückschau ein ähnliches Bild. Spätestens seit den Arbeiten zum „Computer Integrated Manufacturing (CIM)“ stand die Vision einer stark vernetzten, voll automatisierten und absolut menschenleeren Fabrik im Raum. Da steht sie noch heute, nämlich im Abstellraum. Tatsächlich haben die Computer keineswegs über nationale Strategien und europäische Initiativen Eingang in die Unternehmen gefunden, sondern über brauchbare, im Sinne des Wortes „praktikable“ Lösungen wie die numerische Steuerung von Werkzeugmaschinen. Was mit Lochkarten begann, hat heute das Smartphone erreicht.

Erst wenn brauchbare und bezahlbare Lösungen verfügbar sind, kann sich die Wucht einer Digitalisierungsstrategie in der Praxis wirklich entfalten. Technologieeinsatz muss sich für die Unternehmen in erster Linie lohnen. Und hier stehen wir tatsächlich vor einem Quantensprung, weil ein Smartphone nicht wirklich teuer ist – aber über die vielfache Leistungsfähigkeit früherer Großrechner verfügt. Diese Potenziale muss man nutzen, anstatt über Revolutionen zu philosophieren, die anderswo längst stattgefunden haben oder sich bei näherem Hinsehen als bloße Evolutionen oder technologische Migrationen entpuppen. Wenn es uns gelingt, Plattformen und Dienste wie Uber oder brauchbare Prinzipien davon auf die Produktion zu übertragen, haben wir einen Riesenschritt gemacht. Aber noch einmal: Dazu müssen wir weder das Rad neu erfinden, noch die Revolution ausrufen. Es genügt vollkommen, wenn wir unsere Intelligenz darauf verwenden, praktikable Lösungen zu bauen. Fachleute bezeichnen diese Lösungen als smarte Technologien („Smart Technologies“). Am ZeMa werden sie digitale Helferlein genannt. Es gibt sie, man kann sie nehmen und einsetzen.

Anders ausgedrückt: Man muss nicht ständig versuchen, abstrakte Systeme über die betrieblichen Abläufe zu stülpen. Vielmehr sollte man die realen Prozesse sehr genau betrachten, den Nutzen der digitalen Helferlein erkennen – und diese da einsetzen, wo sie ihren Nutzen auch entfalten können. Ausgangspunkt ist immer die Frage, wo man sich verbessern kann bzw. wo Fehler entstehen. Diese Themen gilt es vorrangig zu lösen. Wenn man konsequent auf diese Weise arbeitet, ist man bereits auf dem Wege einer pragmatischen, lösungsorientierten Digitalisierungsstrategie.

 Professor Rainer Mueller ZeMa

Bringt die Dinge auf den Punkt

Prof. Dr. Rainer Müller vom ZeMa in Saarbrücken

Die Digitalen Helferlein

In einem Anwendungsfall zu Industrie 4.0 ist es dem ZeMa gelungen, alle relevanten Informationen über den gesamten Prozess hinweg verfügbar und zugänglich zu machen. Dazu wurden auf den Laptops bzw. Smartphones der Mitarbeiter kleine Plug-Ins installiert, die eine schnelle Interaktion ermöglichen, ohne das gesamte Unternehmen und seine IT-Systeme auf den Kopf stellen zu müssen.

Der Erfolg solcher Lösungen steht und fällt mit der Akzeptanz durch die Mitarbeiter. Hier kommt man den Gewohnheiten und Präferenzen der Leute entgegen, indem man den Einstieg so vielseitig wie möglich gestaltet. Neben den genannten Laptops und Smartphones kamen auch Tablets und ein „intelligentes Papier“ zum Einsatz. Diese Technologie macht es möglich, mit einem Stift Anmerkungen oder Änderungen einzugeben, die dann sofort ins System übernommen werden. Die gute Nachricht (für die Betriebe): Alle in diesem Projekt eingesetzten Technologien waren verfügbar und vergleichsweise einfach in die Lösung zu integrieren. Die Hebelwirkung dagegen übertraf die Erwartungen der Experten bei weitem.

Die Helferlein in der Praxis

Um die Geschichte etwas abzukürzen: Als in der praktischen Anwendung alle im Wertschöpfungsprozesses anfallenden Daten gesammelt und adäquat abgebildet waren, begann man damit, Prozessdurchläufe zu simulieren. Um das komplexe Gefüge möglicher Einflussfaktoren vollständig zu erfassen, wurde wiederum auf digitale Helferlein zurückgegriffen. Die Rede ist von Lösungskomponenten zur Künstlichen Intelligenz, die sich heute unschwer im Internet finden, herunterladen und an die Bedürfnisse der Praxis anpassen lassen. Auf diesem Wege konnten die Prozesse sehr realitätsnah simuliert, die entscheidenden Fehlerursachen entlarvt werden. Voraussetzung war, dass sowohl Maschinendaten als auch Prozessinformationen adäquat dargestellt und mit Hilfe spezieller Algorithmen kombinatorisch getestet werden konnten. Muster: Wenn ein Produkt die Prozesse in einer bestimmten Kombinatorik durchläuft, bekomme ich ein definiertes, vorhersehbares Ergebnis.

Bei diesen Analysen erweisen sich die digitalen Helferlein, in Form von Neuronalen Netzen oder KI-Algorithmen, als überaus wertvoll. Aber sie haben auch ihre Grenzen. So machen die Tools zwar deutlich, bei welchen Kombinationen gehäuft Fehler auftreten – aber sie liefern keine Aussagen, warum das der Fall ist. Hier ist nach wie vor das analytische Können des „Homo technicus“ gefragt.

Quantensprünge sind möglich

Das hier kurz skizzierte Vorgehen ist keine Raketenwissenschaft. Die Lösungselemente sind weitgehend bekannt, verfügbar und lassen sich zu einer praktikablen Gesamtlösung zusammenbauen. Man darf sich von Begriffen wie KI, Semantik oder Algorithmus eben nicht abschrecken lassen. Im Gegensatz zu früher gewinnt der Analyse- und Verbesserungsprozess jedoch enorm an Geschwindigkeit und Effizienz. Noch vor wenigen Jahren hätten die umfassenden Datenerhebungen und -analysen im skizzierten Beispiel Jahre gedauert und Mannjahre gekostet. Heute ist das Ganze in einigen Monaten erledigt. Mit einem ausgezeichneten Ergebnis, wohlgemerkt.

Noch einmal: So sieht für die Forscher am ZeMa, namentlich Professor Rainer Müller, der richtige Weg in die Digitalisierung aus. Man geht von einem spezifischen Problem im Tagesgeschäft aus und sucht einen logischen, gangbaren Pfad in die digitale Zukunft. Anwendung sucht Lösung, nicht umgekehrt. Der Lösungsraum mit vorhandenen und einsetzbaren Technologien ist derart groß, dass man das digitale Rad nicht ständig neu erfinden muss. Das beweisen nicht zuletzt die neuen Geschäftsmodelle, die überall aus dem Boden schießen. Dabei werden, ausgehend von einem unterstellten Kundenbedarf, neue Kombinationen erdacht und systematisch mit vorhandenen Lösungskomponenten bestückt. Das Bestreben, permanent Grundlagenarbeit zu leisten, visionäre Technologien zu entwickeln und deren Anwendung komplett zu vergessen, ist eine Art „deutscher Krankheit“. Die aber kurierbar ist – mit Rezepten aus dem Saarland?

von Gerhard Spengler

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