Im Gespräch: "Bei KI müssen wir vom Prozess her denken"

Professor Jörg Krüger von der TU Berlin ist Initiator und Mitautor des im Herbst 2019 erschienenen Handlungsleitfadens „KI in der Produktion“. Mit ihm sprach Michael Rohn, Verlagsleiter bei LOG_X.

LOG_X: Herr Professor Krüger, welches Ziel verfolgen Sie mit dem aktuellen WGP-Standpunktpapier „KI in der Produktion“? Künstliche Intelligenz soll die deutsche Produktion zukunftsfest machen und dabei helfen, Wertschöpfungspotenziale zu heben. Das Problem dabei: Bislang gab es hierzu keinen systematischen Ansatz. Und genau den liefern wir jetzt.

LOG_X: Wenn ich es richtig gesehen habe, sind die Handlungsempfehlungen in Kapitel 7 gewissermaßen das „Herzstück“ Ihres Papiers. Das ist richtig. Ich denke, dass viele Unternehmen mittlerweile verstanden haben, dass es sich bei KI um ein industrierelevantes Thema handelt – und nicht um eines, das lediglich von Forschungsinstituten in ihren Elfenbeintürmen vorangetrieben wird. Jetzt stehen sie vor der Frage, wie sie dieses Thema mit Kompetenz untersetzen können. Die zentrale Frage lautet, lapidar gesagt, „Wie gehen wir an dieses Thema heran?“ Aus diesem Grund haben wir Handlungsempfehlungen formuliert. Sie sollen eine erste Orientierung geben, wie man sich dem Thema nähern kann. Benötigen wir eigene Expertise bei Maschinellem Lernen? Welche Fragen müssen wir uns stellen? Und wie können wir Expertise, die im Unternehmen vorhanden ist, gezielt nutzen? Denken Sie beispielsweise an die Kompetenzen, über die die Mitarbeiter im Qualitätsmanagement verfügen. Sie sind in statistischen Fragen sehr gut ausgebildet und verstehen etwas von Verteilungen, die ja bei den meisten maschinellen Lernverfahren, die in der Regel statistische Lernverfahren sind, eine große Rolle spielen. Unsere Idee war, mit Hilfe der Handlungsempfehlungen zu motivieren und ein Bewusstsein zu schaffen, dass gewisse Voraussetzungen in einzelnen Unternehmen durchaus bereits erfüllt sind.

LOG_X: Sie verfolgen in Ihrem Standpunktpapier einen prozessgetriebenen Ansatz. Könnten Sie das bitte erläutern? Wer sich mit dem Thema KI beschäftigt, hört viel von datengetriebenen Methoden – nicht nur aufgrund der Fortschritte, die in Sachen Datenanalyse erzielt werden. Es ist richtig, dass hier sehr viel Potenzial steckt. Kritisch aus unserer Sicht ist, dass diese Methoden die Wertschöpfungspotenziale nur unzureichend nutzen. Datengetriebene Modelle sind Blackbox-Ansätze, die von abstrakten Modellannahmen ausgehen. Und die orientieren sich in der Regel nicht an einem tieferen Prozessverständnis. Damit enthalten sie auch nur wenig Information, welche Daten das Unternehmen denn überhaupt gezielt sammeln sollte.

Professor Joerg Krueger im Gespraech LOG X

LOG_X: Es geht also, wenn ich Sie richtig verstehe, um eine sinnvolle Kombination von Daten und Prozessen? Richtig. Unseres Erachtens liegt sehr viel Wert in der Domänenkompetenz bei denjenigen, die die Prozesse betreiben. Unser Credo: In der Produktion sollten wir systematisch die Daten und das Domänenwissen verbinden, um Prozesse weiter zu verbessern und effizienter zu machen. Wenn das mein Ziel ist, dann sollte ich auch vom Prozess her denken, wofür hohes technologisches Know-how nötig und in produzierenden Unternehmen ja auch vorhanden ist. Und mir die Frage stellen, woher die Daten kommen. Andernfalls zäume ich das Pferd von hinten auf…

LOG_X: Kennen Sie ein Unternehmen, das in diesem Zusammenhang ein gutes Beispiel für das von Ihnen genannte Zusammenspiel wäre? 2019 war ich zu einem Vortrag bei einem Hidden Champion in Süddeutschland eingeladen, einem führenden Anbieter für Antriebssysteme im Bereich der Miniatur- und Mikroantriebstechnik und exzellent aufgestellt. Dort kam das Management auch auf das Thema KI zu sprechen. Nach dem Vortrag durfte ich noch einen Blick in die Produktion werfen. Dort sah ich den Einsatz einer optischen Qualitätskontrolle: Durch die bisher noch auf menschlicher Expertise basierende Unterscheidung von Gut- und Schlechtteilen auf Basis hochauflösender Kamerabilder entstehen "gelabelte" Beispieldaten. Das ist eine sehr gute Voraussetzung, um überwachtes Lernen anzuwenden. Die Herausforderung besteht darin, das Vorhandene in eine informationstechnische Struktur zu bringen. Ich bin überzeugt davon, dass es in vielen Unternehmen „digitalen Goldstaub“ gibt, den man jedoch erst glitzern sieht, wenn man die KI-Brille aufsetzt.

LOG_X: Lassen Sie uns noch einen kurzen Ausblick in die Zukunft werfen. Wohin wird die Reise aus Ihrer Sicht gehen? Wohin die Reise genau geht, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich möchte gerne drei Aspekte kurz beleuchten: In Berlin beschäftigen wir uns stark mit dem Thema Bildverarbeitung. Und wir stellen fest, dass die Fehlerrate im Zeitraum von 2010 bis 2017 von knapp 30% auf ca. 3 Prozent zurückgegangen ist. Extrapoliert man diese Entwicklung, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass wir in fünf Jahren möglicherweise bereits bei 0,5% liegen.

Ein sehr spannendes Thema ist zweitens das „Transfer Learning“. Darunter versteht man einen Ansatz, neuronale Netze mit Daten zu trainieren, die aus einem ganz anderen Prozess stammen. Oder anders gesagt: Es geht um ein „Vorlernen“ anhand von Alltagsgegenständen, indem Merkmale erzeugt werden, die auch zum Erkennen industrieller Güter genutzt werden können.

Ein weiterer Bereich, in dem sich viel bewegen wird, ist drittens in der Robotik das Thema „Reinforcement Learning“, kurz: RL. Dort wird wohl ein weiterer Schritt in Richtung echter KI stattfinden. Beim RL lernt ein Agent, welche Aktionen in bestimmten Situationen durchzuführen sind, um ein vorliegendes Problem zu lösen. In diesem Bereich sind Forscher weltweit unterwegs. Auch hier dürfen wir wohl interessante Fortschritte erwarten.

LOG_X: Welche Rolle spielt für Sie im Zusammenhang mit KI-Technologien der Wissenstransfer? Eine sehr wichtige. Denn es entsteht ein immer größeres Gap zwischen dem, was technisch möglich und dem, was in den Unternehmen an Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen abbildbar ist. Von daher ist es eine wichtige Aufgabe, KMU beim Thema KI zu befähigen. Unsere Stärke in Deutschland ist die gute Verbindung zwischen Forschungseinrichtungen und Unternehmen. Hinzukommt unsere „Ingenieurs-Denke“ in Form eines systematischen und strukturierten Vorgehens, um sich dem Thema der industriellen Nutzung von KI bzw. dem Maschinellen Lernen zu nähern. Unser Handlungsleitfaden soll kleinen und mittelständischen Unternehmen helfen, Wertschöpfungspotenziale konsequent und in beherrschbaren Schritten für sich zu heben. Auf diese Weise, davon bin ich überzeugt, können wir unsere weltweite Wettbewerbssituation im Bereich der Automatisierung verbessern. Und zwar drastisch.

LOG_X: Herr Professor Krüger, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch. 

Prof. Jörg Krüger ist Leiter des Fachgebiets Industrielle Automatisierungstechnik, Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb (IWF) der TU Berlin sowie Leiter des Geschäftsfeldes Automatisierungstechnik am Fraunhofer IPK.

Hier können Sie das Standpunktpapier "KI in der Produktion" der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Produktionstechnik (WGP) herunterladen.

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